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Der obdachlose Bursche

Die Begegnung mit einem obdachlosen jungen Mann entwickelt sich anders als erwartet.

Es war mitten in der Nacht. Ich befand mich zu Fuß auf dem Heimweg, noch angeheitert und daher etwas schlendernd. Ich hatte mit meinen Teamkameraden den Sieg unseres Eishockey-Vereins gefeiert. Unser hartes Training hatte sich gelohnt und der Sieg fiel am Ende sehr deutlich aus, obwohl wir als Außenseiter gegolten hatten. Die Freude war groß und das Bier floss in Strömen. Ich hatte das letzte Glas bereits vor einer Stunde gehoben, außerdem war diese Herbstnacht recht kühl, dementsprechend war ich wieder einigermaßen bei Sinnen, als ich die Schreie hörte.

Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich etwas gehört hatte. Ich blieb stehen und lauschte. Wieder erklang eine Männerstimme. »Feiglinge!«, rief jemand. »Ihr feigen ...« Die Stimme brach stöhnend ab.

Was nun? Einfach weitergehen? Für einen Moment war ich versucht, dieser Option zu folgen, um möglichem Ärger aus dem Weg zu gehen, doch dann kam ich zur Besinnung und zückte mein Handy. Ich hatte die 110 schon gewählt, als ich merkte, dass das Display dunkel blieb. Der verdammte Akku war schon wieder alle! Ich starrte wutentbrannt auf das Gerät, als ich einen klatschenden Laut vernahm, gefolgt von einem schmerzhaften Stöhnen.

»Feigl...«, die Stimme klang nun sehr schwach und brach mitten im Wort ab.

»Wer ist der Feigling?!«, rief eine andere männliche Stimme. »Du Assi!« Auf diese Worte folgte das Gelächter von mindestens zwei weiteren Männern.

Ich atmete tief durch und spannte meine Muskeln an. Durch das regelmäßige Training im Verein war ich entsprechend fit und konnte es wohl mit ein oder zwei ›normalen‹ Typen aufnehmen. Allerdings war meine letzte Prügelei, von gelegentlichen Rangeleien auf dem Spielfeld mal abgesehen, schon einige Jahre her und damals war ich einundzwanzig gewesen, mittlerweile war ich fast dreißig.

Erst einmal wollte ich sehen, was dort vorging, bevor ich mir weitere Aktionen überlegte. Ich folgte den Stimmen und gelangte zu einer engen Seitengasse. Im schwachen Licht einer Straßenlampe sah ich nun, was sich dort abspielte. Drei junge Kerle standen um eine verkrümmt am Boden liegende Gestalt herum. Einer der jungen Typen trat dem Liegenden in den Bauch. Der stöhnte vor Schmerzen. In mir stieg Wut auf. Wie konnte man auf einen am Boden Liegenden eintreten? Was für feige Schweine waren das!

Mir war jetzt egal, was der Grund für diesen Streit gewesen war, ob der Typ am Boden ihn angefangen hatte oder ob der Streit auf sonst eine Weise vielleicht ›berechtigt‹ gewesen war oder nicht. Ich sah rot! Wenn ich nicht so gut drauf gewesen wäre, wegen des Sieges und des Alkohols, und mich quasi unangreifbar gefühlt hätte, hätte ich vielleicht so viel Vernunft besessen, zum nächsten Haus zu rennen, um dort die Polizei zu rufen.

Vermutlich wäre mir sogar geöffnet worden, denn dieser Stadtteil war vor allem von mittelständischen Leuten bevölkert. Reiche, die sich abschotteten oder Arme, die eher Angst vor der Polizei hatten, fand man in anderen Vierteln. Aber darüber dachte ich nicht nach, als ich nun wutentbrannt in die Gasse stürmte. Sonst wäre wohl alles ganz anders gekommen.

»Stopp!«, rief ich wütend. Die drei Jungs wandten sich überrascht um. Ich packte den ›Treter‹ und drehte ihm blitzschnell den Arm auf den Rücken. Ich sah den Schrecken in den Gesichtern der anderen Jungs. Alle drei hatten kahl rasierte Köpfe und wirkten schon auf den ersten Blick, als ob sie nicht bis drei zählen konnten. Innerlich seufzte ich erleichtert. Solche Jungs würden vermutlich schnell Reißaus nehmen. Ich hatte den einen Jungen im festen Griff und er schrie spitz, als ich seinen Arm weiter verdrehte. Einer der anderen Burschen zog ein Messer, das verkomplizierte die Sache. Dumme Jungs mit Waffen neigten zu mehr Mut.

Der Junge warf das Messer von der einen Hand in die andere und musterte mich mit düsterem Blick. Ich riss erneut kräftig am Arm des Treters, der vor Schmerz aufjaulte. »Sag deinem Freund, er soll das Messer wegpacken, sonst reiß ich dir deinen verdammten Arm aus dem Gelenk!« Der Typ hielt das Messer auf Hüfthöhe und kam einen Schritt näher, ignorierte die Schmerzensschreie seines Freundes. Der dritte Bursche hielt sich im Hintergrund und sah ihm mit eher ängstlichem Blick zu. Langsam wurde die Sache ungemütlich.

»Die Polizei ist schon auf dem Weg«, sagte ich ruhig. Der Messerjunge hielt inne. Der dritte Typ weitete vor Schreck die Augen und lief dann einfach los, ohne ein Wort zu sagen. Der mit dem Messer sah ihm nach und rief: »Bleib stehen! Feigling!« Als er mich wieder ansah, wirkte er verunsichert. Ihm wurde anscheinend bewusst, dass es nun nur noch zwei gegen einen stand und seinen schluchzenden Kumpel hatte ich im festen Griff. Der Typ am Boden begann sich zu regen und stöhnte, während er sich mit einem Arm abstützte. »Scheiße«, sagte der Messerjunge. Er wandte sich ab und rannte davon. Im Laufen steckte er das Messer wieder unter seine Jacke, wenn er gestürzt wäre, hätte der dumme Junge es sich vermutlich in die Brust gerammt. Nachdem er um die Ecke verschwunden war, schubste ich den Treter von mir weg. »Hau ab!«, rief ich, doch auch ohne diese Aufforderung war er schon losgelaufen, dabei Rotz und Wasser heulend.

Ich atmete tief durch. Adrenalin schoss durch meinen Körper und mein Herz pumpte. Der Typ am Boden rappelte sich langsam auf. Sein Schweißgeruch stieg mir in die Nase. Er trug einen löchrigen Pullover und eine teilweise zerrissene Jogginghose, unter der er aber anscheinend noch eine weitere Hose trug. Entweder war er sehr modisch angezogen oder ein Obdachloser. Dem Geruch nach zu urteilen vermutlich letzteres.

Ich packte ihn am Arm und half ihm auf die Beine. Er war in etwa so groß wie ich, aber noch sehr jung. Er zuckte kurz zusammen, als ich ihn berührte. »Wir sollten gehen«, sagte ich. »Vielleicht kommen die Jungs mit Verstärkung zurück.« Er nickte, hob seine Jacke vom Boden auf und folgte mir. Er ging leicht gekrümmt und hielt sich den Bauch.

Außerhalb der Gasse im Licht der Straßenlampe, sah ich ihn das erste Mal deutlich. Er war mindestens zehn Jahre jünger als ich. Sein Gesicht war eigentlich sehr hübsch. Er wirkte allerdings sehr müde und aus seiner Nase rann etwas Blut. Auf den Wangen und am Kinn hatte er ein paar rötlich schimmernde Bartstoppeln. Sein dunkelblonder, lockiger Haarschopf war zerzaust und wurde anscheinend lange nicht mehr von professioneller Hand geschnitten. Er schlüpfte nun in seine dicke Bundeswehrjacke, die ebenso zerschlissen war wie seine restliche Kleidung, danach lehnte er sich gegen die Hauswand.

»Hier solltest du nicht stehen bleiben«, sagte ich und sah mich etwas besorgt um. »Die Polizei kommt nicht wirklich. Das war nur ein Bluff. Aber die Jungs könnten wiederkommen.«

Er hob den Kopf und sah mich erschöpft an. Er wischte sich mit dem Handrücken die blutige Nase ab. »Danke«, sagte er. »Alles okay. Ich komm zurecht.« Er rückte von der Mauer und ging dann langsam davon. Ich wandte mich in die andere Richtung. Nachdem ich ein paar Schritte gegangen war, sah ich zurück. Der junge Kerl lehnte kaum zwanzig Meter entfernt schon wieder an einer Hauswand.

»Er kommt zurecht«, sagte ich mir. »Der ist das Leben ja so gewohnt ...« Ich ging weiter. Nach ein paar Schritten sah ich mich erneut um. Der Junge war an der Wand zusammengesackt. Ich seufzte und lenkte meine Schritte nun wieder in seine Richtung. Fluchte in Gedanken über mich, über dumme feige Schläger im Allgemeinen und dumme Burschen, die nicht arbeiten gehen im Besonderen. Während ich mich dem Jungen näherte, hoffte ich, dass er aufstehen und davongehen würde, bevor ich ihn erreichte, doch selbst als ich neben ihm stand, regte er sich nicht.

Plötzlich überfiel mich eine leise Panik. War er etwa ernsthaft verletzt? »Hey?«, sagte ich und packte den Arm des Burschen. »Alles okay?«

Der Junge hob, Gott sei Dank, den Kopf und sah mich mit glasigem Blick an. »Ich ...«, begann er, dann wandte er den Kopf zur Seite und übergab sich auf die Pflastersteine des Gehwegs. Mir fiel als erstes positiv auf, dass kein Blut in der Suppe war. Wenn man Eishockey spielt, härtet man mit der Zeit ab, Verletzungen und auch solche ›Nettigkeiten‹ wie der Junge gerade von sich gab, gehörten zwar nicht zum Alltag, aber kamen während des Trainings und auch während eines Spiels gelegentlich vor. Eishockey war kein Spiel für Zimperliche. Ich half dem Jungen auf die Beine und legte seinen Arm um meine Schultern.

»Wo wohnst du?«, fragte ich, ohne wirklich die Hoffnung zu haben, dass er irgendwo zu Hause war. Der Junge schüttelte den Kopf. Er würgte und ich drehte ihn zur Seite, um meine, gar nicht mal so billigen, Sneakers zu schützen, doch es blieb beim Würgen und es kam nichts mehr heraus. Ich vermutete, dass er nicht viel im Magen hatte. Regelmäßige Mahlzeiten gehörten wahrscheinlich nicht zu seiner täglichen Routine.

»Ok, Junge«, sagte ich. »Ich wohne hier in der Nähe. Ich nehme dich mit und dann rufen wir einen Krankenwagen.« Der Junge hing wie ein nasser Sack an mir und ich fragte mich, ob er meine Worte verstanden hatte.


... weiter geht es im Buch!